5. Februar 2016

Babysitten bildet!

Nachdem ich vor einiger Zeit meinen ersten längerfristigeren Job als Babysitterin pädagogische Betreuerin ergattern konnte, stellte sich sehr schnell jener Effekt ein, der mir aus Nachhilfe-Tagen wohlbekannt war. Verkürzt könnte man sagen: Hast du eine, hast du alle. Wenn man einmal in der Community drin ist, greift plötzlich das engmaschige Netz der entlastungsgierigen Eltern und man wird von einem nach Auszeit lechzenden Paar zum nächsten gereicht. Ich habe Glück, denn die Freunde der Freunde der Freunde meiner Bekannten sind ausnahmlos unfassbar freundliche und angenehme Menschen. Seit einiger Zeit passe ich auf den kleinen F. auf, Sohn zweier Ärzte - was mich gleich beim ersten Besuch ungläubig erstarren lies, als der gerade 4-jährige, von einer Erkältung gebeutelt, heftig niesen musste - und dies in seine A R M B E U G E tat. Seine. Armbeuge. Andere Kinder in dem Alter können das Wort nicht einmal aussprechen...

Vor ein paar Tagen war es wieder so weit, die Eltern von F. ausgeflogen, um sich mal einen Film "mit echten Menschen" anzusehen, und der kleine Knirps in meiner Obut zurückgelasssen. Ich glaube, ich lehne mich nicht sehr weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass F. nicht unbedingt in das Schema des typischen 4-Jährigen passt. Wissbegierig, aufmerksam, klug, bastelwütig, kooperativ, ruhig und nachdenklich gibt er mir häufig genug Grund, Dinge zu hinterfragen, innerlich laut zu lachen - und an meinen babysitterischen Kompetenzen zu zweifeln. Ich möchte das an ein paar Beispielen illustrieren:

1. Sobald seine Eltern aus dem Haus sind, möchte F. mir sein Buch über die Nordsee zeigen, das er zu Weihnachten bekommen hat. Er sieht die Bilder von Stränden und Inseln und erzählt mir, dass er einmal mit seinen Eltern auf Sylt war ("einmal", ich mein, er ist vier Jahre alt, wie lange kann das zurückliegen, 5 Wochen?).
Nachdenklich schaut er mich an und fragt: 
"Liegt denn Sylt in der Nordsee?"
Autsch. Kurz erwäge ich die Möglichkeit, ihm zu antworten "Rügen liegt in der Ostsee" - die einzige wahre Aussage über die spezifische Verortung einer deutschen Insel, die ich mit Sicherheit treffen kann. Aber ich bin mir ziemlich sicher, er würde diesen Kniff durchschauen. Unauffällig wende ich ihm also den Rücken zu und schiebe mit einer Hand mein Handy aus der Hosentasche, um unser aller digitales Orakel zu berfagen. Ich google also: "Sylt, Nordsee".
Falls es jemand wissen will: Ähäm, ja, Sylt liegt in der Nordsee. -.-

2. Kaum ist diese Klippe umschifft, kommt die Sprache auf die große Sturmflut von 1962 (bin schon froh, dass er das genaue Datum nicht wissen will). Wir sprechen über alljährliches Hochwasser. Ich tätschel ihm also ganz mütterlich die Schulter und versuche ihm in beruhigender, allwissender Stimme zu versichern:
"Ja, aber hier in Berlin, da tritt das Wasser nicht über die Spree. Das Hochwasser kommt nicht bis hier her." 
Nicht gänzlich beruhigt, aber offensichtlich interessiert blickt F. mich an: 
"Und warum nicht"? 
Ähm ja, wieso eigentlich nochmal? Ich nehme mir vor, in meinem nächsten Leben Meteorologie, Geographie, Physik und mindest noch eine weitere Naturwissenschaft zu studieren und außerdem nur noch Aussagen zu treffen, die ich genau begründen kann. Warum war jetzt das verfluchte Wasser nochmal blau?

3. Beim Abendessen sitzen F. und ich uns ganz gesittet gegenüber, keine Spielereien mit dem Essen, kein Herumhampeln, kein "Ich will aber Nutella" und kein "Was passiert, wenn ich dieses Glas Milch hier jetzt einfach mal umschmeiße". Stattdessen sprechen wir F.s Zukunftsperspektiven durch. Er ist sich ziemlich sicher, dass er Müllmann werden will (okay, da unterscheidet er sich jetzt doch nicht so sehr von seinen Altergenossen). 
"Früher", fügt er hinzu, "Früher wollte ich immer Weihnachtsmann werden, aber...." 
Ich lächle mild und setze meine "Du hast also die Wahrheit bereits erfahren"-Miene auf. 
 "....aber ich denke es kann immer nur einen Weihnachtsmann geben.", schließt F. seine Überlegungen. 
Ich beiße mir auf die Zunge, denn ich weiß: "Jetzt kommts drauf an, kein Prusten, kein Verplappern, und bloß keine verstörenden Bemerkungen über eine Erfindung von Coca Cola!" Also erwidere ich stattdessen in angemessenem Ernst: 
"Das stimmt wohl. Aber vielleicht könntest du ja stattdessen Wichtel werden. Da suchen sie immer Leute, hab ich gehört." 
Ob sich jetzt seine Ärzte-Eltern eher darüber freuen würden, ihren Sprössling als Müllmann oder als Helferlein eines leicht übergewichtigen (und leicht fiktiven) Herrn Rauschebarts zu sehen - who knows.

4. Immernoch beim Abendessen: Ich schneide ein winziges Stück Avocado ab und nehme es gedankenverloren mit meinem Mund vom Messer ab. F. erstarrt in seiner Bewegung.
F: "Das....das darf man aber wirklich nicht machen!"
Einen Moment bin ich verwirrt.... oh, Mist, ich bin so selten Vorbild, stimmt ja!
Ich: "Ohja, das war dumm von mir. Das macht man eigentlich nicht."
Aber F. scheint diese Antwort nicht zu genügen. Offensichtlich beunruhigt es ihn, dass ich denke, hierbei handele es sich um einen simplen Verstoß gegen die Etikkette.
F: "Das ist gefährlich, es könnte sogar...",er senkt seine Stimme "ein Stück von der Zunge..." dramatische Pause, finsterer Blick "...dabei ABGEHEN!" 
Der Junge weiß, wie man Horrorgeschichten erzählt.
Ich versuche also glaubhaft den Eindruck zu vermitteln, ich sei mir des Ernstes der Lage bewusst und beteuere mehrmals, dass das wirklich dumm von mir war.
Langsam nickt F., neigt sich verschwörerisch zu mir und sagt gönnerhaft: 
"Das kann jetzt auch unter uns bleiben". 
Verdattert muss ich an mich halten, um nicht laut loszuprusten, da schiebt er mit todernster Miene hinterher: 
"Du machst es einfach nicht noch einmal....ja?" 
Verkehrte Welt.

5. Nach dem Abendessen kramt F. aus einem Regalfach eine Schale mit Plätzchen hervor, hält sie mir hin, aber gibt zunächst zu bedenken:
"Ich habe jetzt nicht gefragt, ob wir eins essen dürfen, aber..." -gibt mir ein Plätzchen, schiebt sich selbst eins in den Mund- "...wenn wir die anderen so schieben, dass sich die Lücke wieder schließt, muss das ja keiner erfahren." 
Kauend kommt mir das erste Mal der Gedanke, dass so viele Geheimnisse, über die wir uns jetzt schon beiderseitiges Stillschweigen versichert haben, sich bestimmt noch einmal rächen werden. Kurze Zeit vorher hatte er mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit den Namen seines zukünftigen Brüderchens verraten, das bald auf die Welt kommen wird. (Ich, begierig nickend, von Natur aus super neigierig, habe ihn eventuell ein klitzekleines bisschen dazu angestachelt...) Und tatsächlich: Kaum ist es an der Zeit, ins Bett zu gehen, wendet sich unser Vertrauensverhältnis auf fatale Weise. Ich möchte, dass er nun schlafen geht, doch F. möchte noch eine ausgiebige Runde basteln. Als ich das Argument ins Feld führe, seine Eltern würden sicher nicht wollen, dass er so lange noch aufbliebe, schaut er mir tief in die Augen und ich meine das wissende Lächeln eines berechnenden Geists im Gesicht des 4-Jährigen aufblitzen zu sehen, als er sagt: 
"Das kann ja dann a u c h unter uns bleiben - und niemand muss es wissen..." 

Und er hat es nicht gesagt, aber ich bilde mir ein, in seinen Gedanken das Ende folgenden Satzes lesen zu können: 
"....oder sie werden noch so einiges mehr erfahren..."

Aber das kann er unmöglich so gemeint haben, oder? Er ist schließlich erst vier.....