Alle Jahre wieder, allgemeines Seufzen und Schniefen auslösend, kommt es dazu, dass aus unserer illustren Wg einer der Mitbewohner auszieht. Wer nun meint, die um sich greifende Niedergeschlagenheit hätte dabei viel mit dem Weggang einer liebgewonnen Person zu tun, der erfasst die Wahrheit nur zum Teil. Ein fast genauso gewichtiger Grund sind Figuren wie Toni Boh (Name von der Redaktion geändert).
Toni Boh war der letzte Bewerber an einem von drei langen Abenden des Lächelns, Nickens, der vermeintlich unschuldigen Fragestellerei und des unentwegten Heuchelns von Interesse des Kennenlernens: kurz des Castings eines neuen Mitbewohners.
Es ist also circa 21:30, zum gefühlten 34 Mal klingelt es. Wir (drei durchschnittliche, freundliche Studentinnen) öffnen dir Tür - und hätten sie bereits im nächsten Moment am liebsten wieder geschlossen.
Vor uns steht Toni Boh - in all seiner Pracht: Abgewetzte Lederjacke, darunter schwarzes Muskelshirt und aufgepumpter Bizeps, der Schädel fast kahl geschoren mit einer Ei-großen Aussparung am Hinterkopf, aus der eine Handvoll Dreadlocks quillt. Unwillkürlich frage ich mich, wann noch gleich meine letzte Hepatits-Impfung war, dann ruf ich mich zur Ordnung und beschließe aufkommende Vorurteile für den Anfang außer Acht zu lassen. Geben wir dem Kerl doch erstmal eine Chance. Vielleicht ist Toni Boh ja ganz anders, als es der erste Eindruck vermittelt.
5 Minuten später: Toni Boh ist ganz genauso, wie es der erste Eindruck vermittelt. Seine ersten Fragen an uns sind, ob wir etwas gegen laute Musik haben - vorzugsweise Elektro- und wie es mit baulichen Eingriffen aussieht: Er möchte sich gerne ein riesiges Hochbett zimmern, das irgendwie ja nun in der Wand verankert werden muss. Während ich noch hilflos lächle, versuchen meine Mitbewohnerinnen bereits Toni Boh herauszukomplimentieren, indem sie ihm von unserem vermeintlich strengen und empfindlichen Vermieter erzählen und ihn unentwegt auf den Straßenlärm, der durch die schlecht isolierten Fenster kommt, hinweisen. Toni Boh lässt sich nicht abschrecken und lädt sich erstmal auf eine Tasse Tee in unsere Küche ein.
Er will sich die Schuhe ausziehen und als wir einlenken, das wäre doch wirklich nicht nötig, schockt er uns mit dem Satz "Ach doch, wenn ich irgendwo länger als 15 Minuten bleibe, ziehe ich immer die Schuhe aus" 15 MINUTEN? Qualvolle Blicke schießen durch den Raum.
Wir geben ihm erstmal einen Tee und während er schon anfängt von seinem verkorksten Studium zu erzählen (eigentlich ist er ja fast fertig (9. Semester), er muss nur noch dieses Praxissemester machen...und dieses Auslandssemester.. da wären noch ein paar Hausarbeiten...ja gut, und die Bachelorarbeit) kratzt er sich unentwegt mit dem Löffel am Bart. Fast schon hypnotisch kann ich meinen Blick kaum abwenden, als er dann zum Zucker greift, die komplette Packung an allen Seiten aufreist und mit eben diesem Löffel einiges an Zucker in seine Tasse zu schaufeln beginnt. Plötzlich entscheidet er sich um und schaufelt die Hälfte des Zuckers wieder zurück.
Meine Gesichtszüge entgleiten mir.
Während wir noch um unsere Fassung ringen - und mit dem Würgreiz- hat es J. geschafft unter einem Vorwand den Platz neben Toni Boh zu verlassen und sich neben mich zu gesellen, sie murmelt etwas von unerträglichem Körpergeruch und öffnet unauffällig das Fenster.
Toni Boh ist jetzt richtig in Fahrt gekommen. Irgendwie scheint er aber nicht wirklich zu wissen, wie man sich als möglicher Mitbewohner gut verkauft. Stattdessen erzählt er von seiner langen erfolglosen Jobsuche und der Frage, wie er nun die Miete zahlen soll. Dann wären da noch seine schweren Depressionen seit einiger Zeit und schließlich gibt er uns tiefe Einblickende in seine letzte Beziehung und die verkorkste Psyche seiner Ex. Was wünscht man sich von einem Mitbewohner mehr..
Langsam wissen wir uns nicht mehr zu helfen. Der Typ macht keinerlei Anstalten diese einseitige Unterhaltung bald zu beenden. Da fällt ihm plötzlich noch etwas ein, dass er ganz routinemäßig noch geklärt haben will: "Ach ja, das macht euch doch nichts, oder? Ich kiffe halt gern, regelmäßig und viel." Ich höre, wie es leise *bing* macht und J. neben mir der Kragen platzt. Unumwunden erklärt sie Toni Boh, dass das für sie nicht in Frage kommt und wir da wohl nicht übereinkommen werden. Schön, dass er gekommen sei, aber das wäre nicht diskutabel.
Betretenes Schweigen. Innerliches Aufatmen bei uns.
Toni Boh zeigt sich verblüfft, "Hmm, achso, ja , na dann....", schafft es aber dennoch weitere 10 Minuten sitzenzubleiben und weiterzureden, bevor wir ihn letztgültig zum Gehen bewegen können. Wir schließen die Tür doppelt ab, der Zucker landet im Müll und das Stuhlkissen in der Waschmaschine.
Und das ist der Grund, warum man sich fürchten muss, wenn es heißt, deine Mitbewohnerin möchte ausziehen. Dann stehst du da - ohne Zucker, ohne Kissen, dafür mit Toni Boh.
(via Pinterest) |